Mittwoch, 28. Mai 2003
Das NPD-Verbot ist gescheitert - was nun? Zu dieser Frage hatte das Jugendbündnis "Bunt statt braun" gestern Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) ins Haus der Jugend Köpenick eingeladen - wenige Meter entfernt von der NPD-Zentrale. Rechtsradikale seien im Aufwind, seitdem das Bundesverfassungsgericht den Verbotsantrag abgelehnt habe - diesen Eindruck teilen die jungen Leute Thierse mit.
Eine Gruppe aus Johannisthal berichtet von Angriffen Rechter am Bahnhof Schöneweide. "Wir waren zu dritt und von 20 Faschos umringt", erzählt eine Betroffene. "Bestimmte Straßen in Johannisthal können wir nicht mehr entlanggehen." Und von der Polizei würden sie nur scheel angesehen. Aufklärung solcher Straftaten gelinge selten. Doch pauschale Behauptungen lässt Thierse nicht unwidersprochen stehen. "Es ist Ihr staatsbürgerliches Recht, Hilfe von der Polizei zu fordern. Seien Sie bloß nicht schüchtern", rät er. "Die Gerichtsverfahren sind heute anders, die Urteile eindeutiger und die Begründung entschiedener als noch vor fünf Jahren." Vorfälle wie diese gebe es auch in anderen Teilen Deutschlands. "In einem thüringischen Dorf etwa. Unerhörte Angst war da zu spüren." Dennoch habe man eine Lösung gefunden.
Thierses Vorschlag: Verbündete suchen, kommunale Politiker und Polizei einladen. "Ich vermittle das gerne", bietet er an. Ihm wird ein weiteres Problem vorgetragen: Rechtsradikale unterlaufen einen staatlichen Jugendclub im Bezirk und rekrutieren dort ihren Nachwuchs. Thierse rät, dass ein fester Kern demokratischer Jugendlicher aktiv werden sollte. "Nehmen Sie den Kampf unter Ihresgleichen um die Herzen und Köpfe auf."
Mittwoch, 28. Mai 2003
Der Prozess gegen den Angreifer auf den Grünen-Politiker Christian Ströbele findet vor dem Amtsgericht statt. Justizsprecher Björn Retzlaff bestätigte gestern, dass in dem Verfahren wegen gefährlicher Körperverletzung voraussichtlich nicht mit einer Haftstrafe von mehr als vier Jahren zu rechnen sei, die eine Verhandlung vor dem Landgericht nötig gemacht hätte.
Der Täter aus Wandlitz ist der Polizei einschlägig als Angehöriger der rechten Szene bekannt. Gegen den Angreifer liefen bereits mehrere Verfahren wegen des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen sowie gefährlicher Körperverletzung und Hausfriedensbruchs. Er soll innerhalb der rechtsextremistischen Szene auch für Waffenkäufe und die paramilitärische Ausbildung zuständig gewesen sein. Außerdem gibt es Hinweise darauf, dass er den Berliner Neonazi Kay Diesner gut gekannt hat, der 1997 auf einen Marzahner Buchhändler wegen dessen PDS-Zugehörigkeit geschossen und anschließend einen Polizisten getötet hatte.
Nach Justizangaben vom Dienstag ist der Angeschuldigte derzeit nicht verhandlungsfähig. Er habe nach einem Unfall lange im Krankenhaus gelegen. Deswegen stehe noch kein Verhandlungstermin für den Prozess fest.
Ströbele, der als erster Grüner ein Direktmandat für den Bundestag erkämpft hatte, war zwei Tage vor der Wahl in Berlin von dem Mann mit einer Stahlrute attackiert worden. Er hatte den Mann nach der Attacke an der Warschauer Straße verfolgt, bis der 35 Jahre alte Täter in ein Haus an der Marchlewskistraße in Friedrichshain flüchtete. Ströbele hielt daraufhin einen Funkwagen an. Die Beamten nahmen den 35-Jährigen wenig später fest.
Mittwoch, 28. Mai 2003
Skinheads in Pirna organisieren sich neu
Pirna. Das erste Urteil gegen die "Skinheads Sächsische Schweiz"
(SSS) von vergangener Woche soll die Neonazi-Szene rund um Pirna eindämmen.
Oberstaatsanwalt Jürgen Schär ist froh, dass die Strukturen der kriminellen
Vereinigung zerschlagen wurden und hofft auf ein Signal an potenzielle Täter.
Doch ist der braune Spuk nach dem Prozess vorüber? "Mitnichten", sagt
Jan Buruck von der Aktion Zivilcourage. "Das Urteil wird die Skinheads
nicht von ihrem Weg abbringen."
Beispiel Thomas S. Er gilt als Mitbegründer und Rädelsführer der SSS, bevor sie verboten wurde. Doch der 29-jährige Sozialarbeiter, der vor Gericht stets im Anzug auftrat, ist seit 1991 in der rechtsextremen Szene aktiv und gehörte schon der ebenfalls verbotenen Wiking-Jugend an. "Die SSS hat jahrelang die Region terrorisiert. Jetzt macht sie unter anderem Namen weiter", fürchtet auch Nebenklage-Anwalt Wolfgang Kaleck. Ohnehin habe sich keiner der Angeklag-ten je entschuldigt. Die Opfer der braunen Schlägertruppe wollen nun in Zivilverfahren Schmerzensgelder einklagen.
Zwar gibt es derzeit kaum Auftritte uniformierter Gruppen, doch Provokationen, Sachbeschädigungen und Übergriffe auf Ausländer und Andersdenkende passieren nach wie vor. Vor wenigen Tagen verurteilte das Amtsgericht Pirna vier Jugendliche für zwei Überfälle auf Asylbewerber. Sie hatten erst Algerier mit einer Schreckschusspistole bedroht und danach zwei Vietnamesen mit einer Holzlatte verprügelt. Im Januar wurde eine Schülerparty von 17 rechtsextremen Schlägern brutal überfallen.
Die Strukturen der Neonazis würden inzwischen neu organisiert, sagt Buruck. Ein neues Internetportal sei erstellt worden und Aufkleber mit dem alten, zynischen SSS-Spruch "Wir sind die Guten" sowie die einschlägig bekannte Schülerzeitung "Parole" tauchten wieder auf. Offenbar versuchten Skinheads auch, ein früheres Fitness-Center als logistische Basis anzumieten. Autos mit Runenschrift auf der Heckscheibe parkten vor dem Haus, junge Männer mit sehr kurzen Haaren begannen zu werkeln. Die Verwaltung bemüht sich indes, den "nationalen Jugendtreff" zu unterbinden. Denn während die Stadt früher dem Vorwurf ausgesetzt war, sich nicht um das Thema zu kümmern, engagiert sich der neue Oberbürgermeister Mario Ulbig (CDU). Er gründete auch eine Initiative gegen Extremismus und für Zivilcourage.
"Das Problem mit den Rechtsextremisten", sagt Markus Kemper vom mobilen Beratungsteam Pirna, "kann nicht die Justiz lösen. Das ist ein Thema für das Rathaus, die Schulleiter, Sozialarbeiter und viele andere." Doch da viele Aktionen der rechten Szene konspirativer und professioneller ablaufen, wird die Arbeit der Behörden komplizierter. Verfassungsschutz-Präsident Rainer Stock zeigt sich dennoch zuversichtlich, dass das SSS-Urteil "heftiges Nachdenken darüber auslöst, ob es nicht an der Zeit ist, den eingeschlagenen Weg in den Sumpf des Rechtsextremismus und der Gewalttätigkeiten zu verlassen". Sein Amt bietet eine Aussteiger-Hotline (0351 / 655 655 655) an, bei der bisher 85 Anrufe eingingen, darunter 37 von potenziellen Aussteigern oder Informanten. Aber auch juristisch wird weiter gearbeitet. Die nächsten drei Prozesse gegen weitere SSS-Mitglieder sind schon vorbereitet.
Sven Heitkamp
Mittwoch, 28. Mai 2003
Aue: Der schmierige Deutsche
und seine ätzenden Tiraden Foto-Ausstellung im Auer Puschkinhaus unter
dem Titel „Hass vernichtet“ - Am Mittwoch, 11 Uhr Eröffnung mit der
Initiatorin |
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Es sind immer die anderen. Sie haben keinen Namen und kein
Gesicht. Doch sie besitzen eine Gesinnung und einen Farbtopf. Schwarz, rot
und hässlich sudeln sie ihre Parolen auf Wände, Zäune und an Laternenmasten: Ausländer
raus! Jude verrecke! Oder: Hängt die Neger! Auf
der anderen Seite ist es immer die gleiche. Sie hat einen Namen: Irmela
Mensah-Schramm. Sie besitzt einen Schwamm, einen Spatel und Aceton. Und sie
hat eine Meinung: Wenn ich es nicht wegmache - wer dann? Deswegen reist sie
mit ihrem Werkzeug durch Deutschland, hält die Augen offen und den Mund nicht
geschlossen. Zeckenoma nennt man die 53-Jährige. Manche auch: rote Sau. Oder:
die Frau, die Schmierereien beschmiert. Am
Mittwoch, 11 Uhr eröffnet sie im Puschkinhaus Aue eine Ausstellung, die ihre
Arbeit dokumentiert. Und ihre Erfahrungen mit den Menschen. Unter dem Titel
„Hass vernichtet“ zeigt die Berlinerin 25 Fotos. Schmieriges Deutschtum,
ätzende Tiraden gegen alles, das nicht ins Bild passt. Die Blumen des Hasses,
das macht Irmela Schramm deutlich, blühen im Dunkeln und auf kargem Boden.
„Ausländer rein - in die Gaskammer“, steht da zu lesen. „Deutsche wert euch
kauft nicht bei Juden.“ Vielleicht ja lieber ein Buch bei einem echten
Deutschen. Konrad Duden würde sich da anbieten. Die
Ausstellung im Puschkinhaus hat Mitarbeiterin Angela Klier von einem
Civitas-Treffen mitgebracht. Dieses Projekt engagiert sich gegen
Rechtsradikalismus in den neuen Bundesländern. Angela Klier knüpft derzeit in
Aue die Fäden für ein solches Netzwerk. Doch es sind nicht nur die Rechten,
die Hass eine Farbe geben. „Stefan B. ist zu klein für sein Alter, er ist
schwul und zu hässlich für diese Welt.“ Armer Stefan B. Auch er ein Opfer
blinder, schriftgewordener Wut. Und auf einem anderen Foto: „Tötet Nazis“.
Ist das etwa besser? Die
Schmierer, das lässt Irmela Schramm wissen, sind nur ein Glied in der
gewaltigen Kette. Da gibt es noch die, die einfach wegschauen. Und die, die
hinsehen und beifällig nicken. „Sowas wie Sie hätte man in der Hitlerzeit in
die Gaskammer gebracht, und das wäre gut so gewesen“, hat man ihr an den Kopf
geknallt. Sie ist davon nicht umgefallen. Nun zwingt die Zeckenoma die
Betrachter ihrer Fotos zum Nachdenken. Über das, was sie oft sehen, aber nur halb
wahrnehmen. Über das, was sie davon halten. Die
Ausstellung ist täglich 8 bis 18 Uhr geöffnet. Gruppen sollten sich unter
Telefon 03771/20303 anmelden. |
Mittwoch, 28. Mai 2003
Herausgehoben oder nicht
Von Rainer Funke
Zuweilen beklagt die Öffentlichkeit gewisse skurrile Züge bei der unabhängigen
Richterei Berlins. Vor allem, wenn die Verfolgung von Neonazi-Straftaten durch
formaljuristische Bedenken verzögert oder gar verhindert wird.
Der Fall des Grünen-Bundestagsabgeordneten Christian Ströbele gehört zweifellos
zu solcherart Moritaten hiesiger Juristerei. Denn dass der Täter Bendix W. sich
acht Monate, nachdem er den Politiker mit einer Stahlrute niedergeschlagen hat,
noch immer auf freiem Fuße befindet, scheint im schwächsten Falle etwas mit
fehlendem Fingerspitzengefühl zu tun zu haben. Ein Prozess ist nicht in Sicht,
weil ein Richter meint, keine besondere Bedeutung in dem Fall erkennen zu
können. Und das, nachdem seit Jahren die Justiz sich nach eigenem Bekunden
selbst in der Pflicht sieht, Gewaltstraftaten, darunter vor allem eben auch die
von Neonazis, möglichst zeitnah zu ahnden. Dies sei eine der wenigen
erfolgversprechenden Möglichkeiten, so tönt es oft genug auch aus den heiligen
Gewölben der Gerichtsbarkeit, der Brutalität und dem Ungeist die rechtlichen
Grenzen zu setzen. Doch ist grau bekanntlich alle Theorie, wie sich in diesem
Falle zeigt.
Ob nun Ströbele ein herausgehobener Mensch in Partei oder Regierung ist oder
nicht, mag in dem Zusammenhang ein Fall für einen Streit unter Gelehrten der
Jurisprudenz sein. Auf alle Fälle ist das ein ziemlich zweifelhaftes Argument
für die Verschleppung des Prozesses. Noch absurder aber dürfte des Richters
Analyse sein, dass Züge einer rechtsextremistischen Handlung nicht erkennbar
seien. Denn der Täter stammt aus dem Neonazi-Umfeld des Attentäters gegen einen
PDS-Buchhändler und Polizistenmörders Kai Diesner, wurde mehrfach wegen
Nazigewalt, illegalen Waffenbesitzes und Ähnlichem mehr verurteilt. Der Mann
ist keine kleine Nummer in der braunen Szene, er ticke über Gewalt, so ein
Ermittler. Dessen Sorge darf man unbedingt teilen.
Mittwoch, 28. Mai 2003
Unfaßbare Tat aus niederer Gesinnung
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Hauptverfahren im »Fall Potzlow«:
Verteidigung setzt auf Aussageverweigerung zum Tathergang
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Gisela
Frielinghaus |
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Am
Montag eröffnete die Zweite Große Strafkammer des Landgerichts Neuruppin die
Hauptverhandlung im sogenannten Mordfall Potzlow (siehe jW vom Dienstag).
Bereits beim ersten Verhandlungstermin wurde deutlich, welche Strategie die
Verteidiger der drei Hauptverdächtigen fahren wollen, denen die
Staatsanwaltschaft Mord, Körperverletzung, Nötigung und Erpressung vorwirft.
Die Angeklagten Sebastian F (17), Marco F. (24) und Marcel S. (18) gestanden
zwar zu Beginn der Verhandlung die Tat, ihre Verteidiger erklärten jedoch
anschließend, daß sich ihre Mandanten von nun an zur Sache nicht weiter
einlassen werden. Die drei Männer sollen
den zum Tatzeitpunkt 16jährigen Marinus Schöberl auf grausame Weise zu Tode
gebracht haben (jW berichtete u.a. am 25.11.2002). Die schweren Mißhandlungen
des Opfers begannen in einem Privathaus im brandenburgischen Strehlow.
Anwesend waren zu diesem Zeitpunkt noch vier weitere Personen, die von der
Staatsanwältin namentlich genannt wurden. Am frühen Morgen des 13. Juli 2002
brachten die drei Tatverdächtigen das Opfer ins nahegelegene Potzlow, wo sie es
auf dem Gelände der ehemaligen LPG bestialisch ermordeten. Der zum Tatzeitpunkt
17jährige Marcel S. hat am Montag faktisch die Hauptverantwortung für das
Verbrechen übernommen. Er habe Marinus nach dem Vorbild einer Mordszene aus
dem Film »American History X« mit einem Sprung ins Genick getötet, heißt es
in einer Erklärung von Marcel S., die von seinem Anwalt verlesen wurde. Die
Tat sei mit den beiden anderen nicht abgesprochen gewesen. Er habe einen »Blackout«
gehabt und nicht gewußt, was er tat. Andererseits haben Bekannte der Brüder
S. den Medien gegenüber mehrfach zu Protokoll gegeben, daß Marcel in einem
starken Abhängigkeitsverhältnis zu dem sechs Jahre älteren Marco, dem wegen
gefährlicher Körperverletzung vorbestraften Neonazi, stand. Staatsanwältin Eva
Hoffmeister betonte ausdrücklich, daß man die Beschuldigten zur rechten Szene
rechne. Die Verteidiger der Angeklagten dagegen bestreiten den rechten
Tathintergrund. Die Verhandlung wird am heutigen Mittwoch fortgesetzt. |
Mittwoch, 28. Mai 2003
Lebensgefährliches Klima
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Fünf Menschen türkischer Herkunft starben
vor zehn Jahren nach dem Brandanschlag von Solingen
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Andreas
Siegmund-Schultze |
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Die
beiden Daten hätten näher nicht beieinander liegen können: Am 26. Mai 1993
wird im Deutschen Bundestag mit dem sogenannten Asylkompromiß ein Gesetz mit
den Stimmen von Abgeordneten aus CDU, SPD und FDP verabschiedet, mit dem das
Recht auf Asyl faktisch abgeschafft wurde. Drei Tage später, in der Nacht des
29. Mai, starben in Solingen Gürsün Ince (27), Hatice Genç (18), Gülüstan
Öztürk (12), Hülya Genç (9) und Saime Genç (4) nach einem Brandanschlag. Die
beiden Kinder und drei Frauen der türkischen Familie Genç hatten an diesem
Pfingstsamstag keine Chance, den Flammen zu entkommen. Acht weitere
Hausbewohner wurden zum Teil schwer verletzt. Die Neonazis Markus Gartmann,
Felix Köhnen, Christian Buchholz und Christian Reher hatten zuvor in dem von
der Familie bewohnten Haus Feuer gelegt. Zehntausende Menschen
beteiligten sich nach dem Anschlag bundesweit an Lichterketten gegen
Rassismus. Der Zusammenhang zwischen staatlichem Rassismus und den Morden
wurde dabei indes selten benannt. Nach einem
internationales Aufsehen erregenden 18monatigen Prozeß wurden im Oktober 1995
schließlich Urteile zwischen zehn und 15 Jahren Freiheitsstrafe »wegen Mordes
an fünf Menschen in Tateinheit mit versuchtem Mord an 14 Menschen und mit
besonders schwerer Brandstiftung« gegen die vier Jugendlichen gesprochen, die
zum Tatzeitpunkt zwischen 16 und 23 Jahre alt waren. Der Direktor des
Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, Christian Pfeiffer, sagte
nach dem Urteil: »Die gesamte Gesellschaft, die ja damals ein Klima der
Ausländerfeindlichkeit hat entstehen lassen, trägt Mitschuld an dem
Verbrechen. (...) Das kommt zu wenig im Strafmaß zum Ausdruck«. Später stellte sich
heraus, daß drei der Täter von Solingen Kampfsport bei Bernd Schmitt
trainiert hatten, dem wichtigsten Informanten des nordrhein-westfälischen
Verfassungsschutzes in der rechten Szene. Schmitt wirkte im »Deutschen
Hochleistungs-Kampfkunstverband« (DHKKV), der nichts anderes als eine
Tarnorganisation der »Nationalistischen Front« war. Nach Bekanntwerden dieses
Umstandes hatte die Opposition den damaligen Innenminister von
Nordrhein-Westfalen, Herbert Schnoor (SPD), scharf angegriffen, weil er
darüber nach dem Brandanschlag nicht informierte. Dem Brandanschlag war
eine Hetzkampagne deutscher Politiker und Medien vorausgegangen, die sich
gegen Menschen ohne deutschen Paß und gegen Bürger nichtdeutscher Herkunft
richtete. Dem »Aufruhr« des deutschen Pöbels 1991 und 1992 in Hoyerswerda,
Mannheim-Schönau und Rostock-Lichtenhagen verpflichtet, forcierten deutsche
Volksvertreter in den darauffolgenden Monaten ihren Kampf gegen »Asylbetrug«
und »Ausländerschwemme«. Die Zahl der Übergriffe auf Flüchtlinge, der
Anschläge gegen von Migranten betriebene Geschäfte, der Schändungen jüdischer
Friedhöfe, der Neonazischmierereien in ehemaligen Konzentrationslagern
schnellte in die Höhe, und die Täter wußten einen nicht kleinen Teil der
deutschen Öffentlichkeit hinter sich. Zählten deutsche Behörden 1990 rund 300
rechtsextremistische Gewalttaten, wurde diese Zahl Mitte 1993 – nach
offiziellen Angaben – schon innerhalb eines Monats fast erreicht. Mindestens
30 Menschenleben forderte der braune Terror zwischen 1990 und 1993. Doch auch nach dem
Verbrechen von Solingen machte mancher Politiker weiter öffentlich aus Opfern
Täter. So stellte die CDU-Bundestagsabgeordnete Erika Steinbach und heutige
Präsidentin des Bundes der Vertriebenen kurz nach dem Anschlag fest: »Furcht
und Ohnmacht vieler Deutscher vor dem jahrelang ungezügelten Zustrom von
Fremden nach Deutschland, die ja zudem Hand in Hand ging mit stetig
steigender Ausländerkriminalität, hat sich in den letzten Jahren
unterschiedlich artikuliert«. * Am 29. Mai findet in
Solingen eine Gedenkdemonstration statt. Auftaktkundgebung um 12 Uhr auf dem
Rathausparkplatz (Konrad-Adenauer-Str./Potsdamer Str.) in Solingen-Mitte.
Informationen unter http://www.antifa-nrw.de |
Mittwoch, 28. Mai 2003
Solingen - eine Stadt auf Bewährung
Zehn Jahre nach dem Skinhead-Brandanschlag auf die Familie Genc gibt es
Streit jenseits des offiziellen Gedenkprogramms
Am 29. Mai 1993 steckten vier junge Skinheads das Haus der Familie Genc in
Solingen an. Fünf türkische Frauen und Mädchen wurden getötet. Am morgigen
zehnten Jahrestag kommt Bundespräsident Johannes Rau zur Gedenkfeier, es folgt
ein Aktionsmonat für Toleranz. Doch jenseits des offiziellen Programms gibt es
Streit.
Von Rainer Jung (Düsseldorf)
Auf eines reagieren Offizielle in der bergischen
Industriestadt allergisch: "Solingen wird immer noch in einer Reihe mit
Rostock und Hoyerswerda genannt", beschwert sich etwa Polizeichef Gerd
Uhrig. Zu Unrecht: Während in den beiden Ost-Städten Menschen vor brennenden
Häusern applaudierten, seien in Solingen "die Betroffenheit und die
Fassungslosigkeit groß gewesen".
Trotzdem ist der Ort, in dem das folgenschwerste rassistische Verbrechen in der
Bundesrepublik geschah, für die Außenwelt eine Stadt auf Bewährung. Ganz
besonders zum Jahrestag. Der soll nach dem Willen eines örtlichen
"Bündnisses für Toleranz und Zivilcourage" ein Zeichen setzen. Für
die Integrationspolitik der Stadt gab es Lob vom nordrhein-westfälischen
Landtag in Düsseldorf.
Die scheinbare Normalisierung wäre nicht möglich gewesen ohne die menschliche
Größe der Opfer: Mevlüde und Durmus Genc, die einen großen Teil ihrer Familie
verloren, sind in Solingen geblieben. Vor allem die heute 60-jährige Mevlüde
hat sich für Verständigung eingesetzt. Dafür erhielt sie das
Bundesverdienstkreuz. Es hat einen Ehrenplatz im neuen Haus der Familie, das
durch Zaun, Panzerscheiben und Videoüberwachung geschützt wird. Unübersehbar,
dass die Gencs auch heute kein normales Leben führen.
Um so mehr irritiert, dass manche Solinger die Familie um ihre traurige
Berühmtheit beneiden. Man muss nur lange genug fragen, um auf Passanten zu
stoßen, die finden, die Gencs hätten nach dem Verbrechen "einen ganz guten
Schnitt gemacht". Es geht um das neue Haus, angeblich mit Pool, und im
Supermarkt müssten die Gencs auch nicht bezahlen. Belege für die absurden
Behauptungen hat niemand. "Diese Gerüchte muss ich alle ertragen",
sagt Mevlüde Genc.
Vorige Woche zeigte das ZDF-Magazin "Frontal 21" eine Straßenumfrage,
die das böse Gerede als herrschende Meinung der Solinger erscheinen ließ.
Außerdem, so der auf Enthüllung gebürstete Beitrag, spare die Stadt unter
CDU-Oberbürgermeister Franz Haug Vereine wie "SOS Rassismus" klein.
Gibt es also eine hässliche Wahrheit hinter der Fassade? Norbert Schmelzer hat
keinen Grund, Solingen schönzureden. "Seit die Stadt die Zuschüsse
gestrichen hat, ist unsere Arbeit viel schwieriger geworden", bestätigt
der Sprecher von "SOS Rassismus". Und mit dem Oberbürgermeister habe
es kürzlich eine Auseinandersetzung um eine Veranstaltung gegeben.
Aber seine Erfahrungen rechtfertigen für Schmelzer nicht den Vorwurf, die
Stadtpolitiker ließen die Erinnerung insgesamt verkümmern. Über das
Toleranz-Bündnis, in dem auch "SOS Rassismus" sitzt, sei nach wie vor
an Geld für Projekte zu kommen. Die Aktionen rund um den Jahrestag lässt sich
die Stadt immerhin 130 000 Euro kosten.
Und die Gerüchte über Familie Genc? "Die hört man manchmal", sagt
Schmelzer. "Die sind schlimm. Aber dass die Mehrheit hier so denken soll,
das ist völliger Unsinn." Wahr ist aber, dass zum Gedenken im Jahr 2002
nur 50 Leute kamen.
Nun, da Deutschland wieder nach Solingen zoomt, ist das Klima gespannt. OB
Haug, der eigentlich ein gutes Verhältnis zur Familie Genc hat, verteidigte seine
Verwaltung bisher gegen den Vorwurf, sie verweigere dem Anwalt von Genc-Sohn
Bekir die Adresse eines der Täter, der nach sieben Jahren Jugendhaft wieder in
Solingen lebt. Das hindere den im Feuer schwer verletzten Bekir, einen Anspruch
auf Schmerzensgeld durchzusetzen, schimpfte Anwalt Rainer Brüssow: Die Behörden
seien "Gehilfen der Brandstifter".
Das Rathaus habe die Adresse des Täters nicht herausgeben dürfen, weil der von
Morddrohungen berichtet hatte, versuchte sich Haug zu rechtfertigen. Da der Täter
aber eine objektive Gefahr nicht habe glaubhaft machen können, gab die
Bezirksregierung Düsseldorf am Dienstag dem Widerspruch Brüssows statt. Die
Stadt gab die Adresse umgehend heraus.
Immerhin: Am heutigen Mittwoch werden die Familie Genc und Haug gemeinsam vor
die Presse treten. Wohl kaum, um sich öffentlich zu streiten.
Die, die es schon immer besser gewusst haben wollen, greifen derweil fleißig in
die Tasten. Warum Mevlüde Genc im Fernsehen kein Deutsch spreche? Wer an
Deutsche denke, die von Ausländern getötet werden? Ob es nicht mal gut sei mit
der Erinnerung? So lauten etliche Wortbeiträge, die seit Tagen im
Internet-Forum des ZDF einlaufen. Sehr unwahrscheinlich, dass dort nur Solinger
schreiben.